Als ich ungefähr zwölf Jahre alt war, fragte mich mein Vater bei einem Spaziergang, was ich im späteren Leben werden wolle. Ich sagte: „Urwaldforscher!“ Der Vater reagierte gelassen, er lächelte und antwortete: „Darüber sprechen wir, wenn du deine Schulen bestanden hast.“ Ich glaubte zu verstehen, es wäre mir erlaubt, „den Urwald zu erforschen“, sobald ich meine Schulzeit beendet hätte.
Seit je hat mich Sehnsucht nach wilden Landschaften und nach ursprünglich lebenden Menschen gepackt. Einerseits suchte ich alles Natürliche, von Menschenhand nicht Veränderte. Anderseits faszinierten mich menschliche Lebensweisen, die noch nicht vom westlichen Konsumdenken infiziert waren. Ich fühlte mich zum Ursprünglichen hingezogen, ich wollte Entdeckungen machen. Diesem Drang kamen in meinen Kinderjahren die Abenteuer entgegen, die ich als Pfadfinder erlebte. Damals gab es in der Schweiz, auch im Zolliker Wald, noch wildwuchernde Natur, in die es mich hineinzog. Die Idee, den Urwald zu durchforschen, liess mich nie los. Ich ahnte nicht, wie sehr mich Jahrzehnte später das Arbeiten in unmittelbarer Nähe des Urwalds herausfordern würde.
Als Student und junger Arzt reiste ich in vom Tourismus damals kaum berührte Länder: Griechenland, Türkei, Persien, Afghanistan, Saudi-Arabien, Jemen, Hadhramaut. Mein Wunsch nach Ursprünglichkeit fand dabei Erfüllung. Meistens reiste ich alleine, nur mit einem Rucksack ausgerüstet. Ich benützte die Verkehrsmittel, mit denen auch die Einwohner im eigenen Land herumfuhren. Ich wollte mit diesen Menschen sprechen können. Ich lernte ihre Sprachen, so dass ich ohne Hilfe in die hintersten Dörfer reisen konnte: Neugriechisch, Türkisch, Farsi, Arabisch.
Seit den letzten drei Klassen des Gymnasiums begeisterte ich mich für die deutsche Literatur, damals vor allem für die Lyrik Goethes und Rilkes, für die Theater Schillers, Lessings, Kleists und Büchners. Ich fing selbst an zu schreiben und zu dichten. Meine damalige Freundin kam mir entgegen. Gemeinsam schwärmten wir in romantischen Vorstellungen. Wir versprachen einander, ein ideales Paar zu werden, wie es in der Literatur vorkomme. Dieser Wunsch zerbrach bald an der Wirklichkeit.
Als ich mich vor der Matura für ein Studium entscheiden musste, schwankte ich lange zwischen Medizin und Literatur. Schliesslich sagte ich mir, bevor ich über den Menschen wahre Aussagen machen könne, müsse ich diesen in seiner Natürlichkeit kennenlernen. Also entschied ich mich für das Medizinstudium. Während der vorklinischen Semester zweifelte ich mehrmals, ob ich mein eigentliches Interesse gewahrt habe, als ich mich für die Medizin entschloss? Als ich dann aber nach dem zweiten propädeutischen Examen mit Patienten zu tun hatte, verflogen meine Zweifel. Den Entschluss, Arzt zu werden, habe ich später nie bereut.
Nach meiner Ausbildung zum Chirurgen war es mir vergönnt, den Arztberuf in seiner ursprünglichen Bedeutung auszuüben, so, wie ich mir diesen Beruf vorstellte. Ich arbeitete als Arzt in unmittelbarer Nähe des Urwalds. Ich baute Krankenhäuser in Afrika, ich rüstete sie aus, ich untersuchte und operierte jahrelang in ihnen. Ich behandelte Kranke in Dörfern, die von Steppe oder wildem Wald umgeben waren. Fern der Verkehrsstrassen richtete ich Gesundheitsstationen ein, die ich regelmässig besuchte. Ich hatte unbeschränkte Verantwortung für meine Patienten. Nie konnte ich sie einem besser ausgebildeten Kollegen überweisen, weil es in einem Umkreis von rund tausend Kilometern keinen Kollegen gab, den ich hätte um Rat oder Hilfe bitten können. Die einheimischen Ärzte, die mit mir arbeiteten, waren jünger als ich, ich musste sie ausbilden. Entweder halfen wir den Kranken, die uns aufsuchten oder wir überliessen sie ihrem Schicksal. Dank meiner breitgefächerten Ausbildung konnte ich vielen Kranken helfen, die ich in Europa einem Superspezialisten hätte zuweisen müssen.
Nach zwanzig Jahren Arbeit als „Arzt im Busch“, als Leiter medizinischer Projekte in Afrika und Südamerika, das heisst in meinem Alter von sechzig Jahren, kam ich auf das zurück, was in meiner Jugend als Alternative gegolten hatte. Ich immatrikulierte mich nochmals an der Uni. Ich studierte Philosophie und neuzeitliche deutsche Literatur. 2003 schloss ich das Studium als lic.phil. ab. In jener Zeit fing ich an zu schreiben. Jetzt im Alter bin ich dankbar, dass es mir vergönnt ist, nachzuholen, was ich in meiner Jugend auch gewünscht, aber zugunsten der Medizin beiseitegelassen hatte!
Heute lebe ich im Zürcher Oberland, auch hier fühle ich mich wohl. Seit Jahren bin ich mit einer Frau verheiratet, die ursprünglich aus der Provinz Katanga der demokratischen Republik Kongo stammt. Zusammen haben wir zwei Kinder, mit ihnen und mit unseren Kindern vor unserer Ehe haben wir insgesamt sechs Kinder. Sie sind alle erwachsen und ausgeflogen.